Oremus pro Pontifice nostro Franzisco.

Dominus conservet eum et vivificet eum

et beatum faciat eum in terra et

non tradat eum in animam inimicorum eius.

Samstag, 1. Oktober 2011

„Unbarmherzigkeit“ – Illustration eines Schlagwortes


Im Sprachgebrauch gibt es Modewellen. Plötzlich taucht ein Wort auf, das einige fanatisch zu lieben scheinen und den Rest der Welt aufstöhnen lässt und man findet es in allen Zeitungen, Fernseh- und Radiosendungen, sogar in normalen Gesprächen taucht es auf. Um dann irgendwann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Man denke an die „Augenhöhe“, deren Hochsaison in diesem Sommer war und die die „Reformen“ abgelöst hatte, die sich hartnäckig mit schwindender Anhängerschaft gehalten haben und mittlerweile schon eher ein sprachliches Schattendasein führen, überstrapaziert und ausgelutscht, mittlerweile im Dauer-Burnout.
Es brauchte etwas Neues, Schlagkräftiges , mit dem man die eingefahrenen Diskussionen noch einmal aufmischen konnte und jemand stieß auf ein Wort, das die meisten eingemottet hatten, weil sie es als unangenehm, unzeitgemäß und als Zumutung empfanden: die Barmherzigkeit. Nein, die Barmherzigkeit war nicht salonfähig zu machen, ABER in ihrer Verneinung eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten, denn unbarmherzig sein , ist allgemein höchst verpönt.
Der große Coup ist dann natürlich, wenn es gelingt – im Rahmen des Kampfes um die Durchsetzung der eigenen Meinung – ein unbeliebtes Vorgehen, das Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gut ausbalanciert hat, als unbarmherzig zu deklarieren, um es zu stürzen. Wozu? Lassen wir das erst einmal offen.

Um zu verstehen, wie unsinnig das Ganze ist, muss man die Diskussion aus ihrem eigenen emotionsbesetzte Rahmen herausnehmen und auf eine andere, ähnlich gelagerte, Situation übertragen und hier bietet sich tatsächlich etwas an: die Straßenverkehrsordnung (StVO).
Jeder kennt sie. Zumindest musste sie jeder, der einen Führerschein hat, einmal gekannt haben, sonst wäre er nicht in Besitz dieser Fahrerlaubnis gelangt.
Fast jeder missachtet sie, manche selten, manche oft, manche immer. Manche eher geringügig, andere gravierend. Manche ohne sich oder andere zu gefährden, viele mit mäßigem bis mittlerem Schaden, andere mit tödlichen Konsequenzen für sich und andere.
Mit meinem schon in anderen Beiträge erwähnten Neffen (8 Jahre) habe ich mir letztens eine Serie angesehen, die „Schneller als die Polizei erlaubt“ hieß. Es war sehr aufschlussreich. Es ging um Zivilstreifen, die – zum Schutz der Allgemeinheit – Ausschau nach signifikanten Brüchen der StVO hielten. Dabei galt interessanterweise, dass „Raser“ 3 Geschwindigkeitsbegrenzungen missachten mussten, bevor sie angehalten wurden.  Denn einmal kann ja immer geschehen, weil ein LKW das Schild verdeckt oder der Fahrer durch Unvorhergesehenes abgelenkt wird.
Ich möchte ein paar Fälle schildern, anhand derer man leicht behaupten könne, die StVO sei „unbarmherzig“. Die „Fahrsünder“ empfanden sie jedenfalls oft so.
Da war z.B. die Frau, deren Freundin tödlich verunglückt war. Im Gefühlschaos und unter Tränen hatte sie sich ans Steuer gesetzt und war losgebraust. 1 Monat Führerscheinentzug, entsprechende Geldstrafe.  Unbarmherzig? – Schmerzlich, sicher. Mitgefühl erregend, auch.  Aber sie hat sich und andere massiv gefährdet durch ihr Verhalten und hätte Auslöser, neuer Tragödien werden können.

Da war der Taxifahrer, der sich von seinem Fahrgast drängen ließ, zu schnell zu fahren. Führerschein weg. Dadurch drohender Jobverlust. Auf jeden Fall Verdienstausfall. – Unbarmherzig?

Da war die junge Frau, die bereits ein Fahrverbot hinter sich hatte. Die Radarfallen hatte sie geschickt umfahren, dazwischen um so mehr beschleunigt. Fahrverbot. Drohender Jobverlust. – Unbarmherzig?

Da war die gestresste Frau, die mit ihrem Terminplan in Verzug war. Demente Mutter im Altenheim, die sie besuchen wollte. Kinder, die abzuholen war. Sie benutzte den Standstreifen, als der Verkehr stockte. Ordnungsstrafe und größerer Zeitverlust, als eingeplant. – Unbarmherzig, ihre Situation nicht zu verstehen?

Da war (irgendwo im französischsprachigen Ausland) ein Türke, der die Stadtautobahn für eine Rennstrecke hielt. Er fühlte sich aufgrund seiner Nationalität diskriminiert, weil andere auch zu schnell gefahren seien. (Sein Pech, dass er der schnellste war.) Ja, andere hat es diesmal nicht erwischt. – Ungerecht? Unbarmherzig?

Die Arbeiter, bei denen eine ungesicherte Gasflasche durch den Laderaum rollte. Riesiger Zeitverlust. Hohe Kosten zur Sicherung des Weitertransports. Hohe Geldstrafe. Sie waren völlig unter Druck und außer sich. – Unbarmherzig?

Die Liste lässt sich lange fortsetzen.  Fast alle Verkehrssünder hielten sich in ihrer spezifischen Situation für „unbarmherzig“ behandelt, denn sie hatten verständliche Gründe für ihr Handeln gehabt. Und die Konsequenz – insbesondere das Fahrverbot – vergrößerte erst einmal ihre Schwierigkeiten. (Es gab natürlich auch die Superreichen und „Supercoolen“, die dann halt mal 3 Monate in ihre Ferienwohnung im Ausland gingen, wo das Fahrverbot sie nicht juckte.)
Ich habe selbst Bekannte, die durch solche Fahrverbote (infolge zu schnellen Fahrens unter massivem Druck der Umstände) größere Probleme hatten und ihren Beruf nur eingeschränkt ausüben konnten. – Unbarmherzig?

Man könnte sich nun vorstellen, dass sich eine Initiative gründet, die fordert, dass in allen solchen Fällen Gnade vor Recht ergehen solle und nur die wenigen zur Ordnung zu rufen seien, die tatsächlich Unfälle verursachen oder die StVO aus  Prinzip missachten. Wobei letztere wahrscheinlich auch plötzlich ganz triftige Gründe finden würden, warum sie, als sie ertappt wurden, gerade die StVO missachten mussten.
Die Folge wäre reine Anarchie auf der Straße und ein gewaltiges Ansteigen von Unfällen. Denn leider lassen sich viele nur durch die „Strafen“ zügeln und zur Vernunft bringen.
Wobei die Strafen gar keine in diesem Sinne sind, sondern nur „Verwarnungen“, d.h. es wird versucht, jemanden zu warnen, dass sein Verhalten noch viel schmerzlichere Folgen für ihn selbst und andere haben könnte.

Das Faktum ist aber, dass auch wenn dem Einzelnen die Konsequenz aus seinem Handeln „grausam“ erscheint, er eventuell dadurch vor Schlimmerem bewahrt wird. Das einzusehen ist natürlich oft nicht leicht, denn die wenigsten können einschätzen, wie sehr sie zur Gefährdung für sich und andere geworden sind.
In Bezug auf die StVO gibt es Sendungen, wie die oben erwähnte, die die Wirklichkeit vor Augen führen. Es wäre zu wünschen, dass eine realistische Sicht der Folgen von Fehlverhalten (das natürlich individuell immer absolut gerechtfertigt erscheint) auch in anderen Bereichen wieder klar vermittelt würde.

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